(Nicht)Orte – Hypothese des Ganzen
Die Wirklichkeit ahmt die Natur nach, aber sie ist keine reine Wiederspiegelung und widerspiegelt in Detail (ex ungue leonem, sagt Vasari) die Schönheit des Ganzen. Diese Erhebung simulacrum wäre unmöglich ohne bestimmte entscheidende Neuheiten im Bereich der Malerei- und der Architekturtechnik: ohne die von Brunelleschie bearbeiteten Methoden der Perspektivkonstruktion und Verbreitung der Ölmalerei bei den Flamen. […] [W]irklichkeit wird präzise wiedergeben, gleichzeitig jedoch nach dem subjektiven Gesichtspunkt des Beobachters, der gewissermaßen zur Wahrheit des Objekts auch die vom Objekt kontemplierte Schönheit hinzufügt.
Girolama de Michele, Simulacrum, [in:] Die Geschichte der Schönheit,
Hrsg. Umberto Eco, Übersetzt von F. Hausmann, M. Pfeiffer, S. 180.
Einsamkeit und Ähnlichkeit
Die Malerei von Mateusz Piestrak. Wenn wir die Bilder dieses jungen Künstlers betrachten, bestärken wir uns in der Überzeugung, dass die Malerei nicht nur eine der Aufstellungsart der subjektiven Wirklichkeit, sondern auch, sofern nicht vor allem, eine Art des Spiegels, in dem sich die für den Künstler gegenwärtige Welt widerspiegelt. Wie ist diese Welt nach Piestraks Vision? Seine Leinwände sind mit uneinheitlichen Formen gefüllt. Sie entstehen infolge der Verbindung von verschiedenen Techniken: von Acrylstrichen mit einem Pinsel oder mit einem Gummiabstreifer, über Ausgießen der Farbe direkt auf die Leinwand, bis zur Anwendung eines Kreppbandes oder zum Aufkleben von Collagen, die sich auf die Ästhetik der Computerprogramme beziehen. Sie bilden eine Art von bunten Subregionen, die sich mehrfach gegenseitig durchdringen. Am häufigsten sind das amorphe, ovale Formen mit “Blur-Effekt“. Figurative Darstellungen kommen auch vor, doch eher ihre Spur oder Erwähnung, eine realistische Kontur oder ein Negativ. Unmittelbar neben (oder zwischen) scheinen scharfe Strukturen durch, die malerische Passagen bilden. Auf manchen Bildern imitieren die Striche mit einem Malwerkzeug die Tätigkeit des Ausradierens. Aus dem dunklen Hintergrund erscheinen bekannte Aussehen, Gestalten, Aufschriften. Manchmal haben wir den Eindruck, dass sie nur Reminiszenz des einmal bestehenden Alphabets der Metakunst, einer universellen Sprache, die außer der Zeit und des Raums funktioniert, sind, und die dem interpersonellen Dialog diente.
Diese Subregionen sind durch die aus der Technik der Bildbearbeitung (Blur-Effekt, Transparenz oder Hervorhebung der Hintergrundebene ohne Alphakanal) entlehnte Schilderung unterstützt. Einerseits verweisen sie auf Abwendbarkeit aller Beziehungen, Bruchstückhaftigkeit und Zufälligkeit; andererseits – auf ihre gegenseitige Ergänzung. Die Ergänzung ist jedoch merkwürdig, untypisch. Sie wird zu einer Art der rheologischen (gr. rhéos fließend) Deformation, in der das Echo des heraklitischen Ausspruches „panta rhei” mitklingt. Sie sind also fließend und instabil – wie die postmoderne Gesellschaft, in der der Künstler erwuchs. Zygmunt Baumann schrieb:
In der fließenden – modernen gibt es fast keine zu Besetzung vorbereiten Positionen und diese, die angeblich diese Rolle spielen könnten, sind gewöhnlich brüchig und verschwinden, bevor wir sie zu besetzen erreichen.
Die auf den Leinwänden vom Posener Künstler erschienenen Verformungen verwischen Grenzen zwischen dem Figurative und der Abstraktion, zwischen der semiotischen Unterscheidung des Zeichens und dessen Bedeutung. Diese Maßnahme hebt in den erfassten Phänomenen das hervor, was ephemer und wiederholbar ist. Da diese Elemente zum Rang der Inspiration werden, stellen sie – inmitten des künstlerischen Eindrucks – Fragen nach neuen Wegen des gegenwärtigen Kunstempfängers. Die Art und Weise, auf die die einzelnen Darstellungen sich komponieren, zeigt jedoch auch etwas mehr, einen Mehrwert. Er stellt einen Versuch dar, den heute sehr wichtigen Diskurs in Kategorien des Anderen und der Identität einzuleiten. Er enthält sich in ihn ein paradoxes Bedürfnis, völlig frei zu sein (zum Beispiel Hinausstellen außerhalb dm Verhältnis mit einem anderen Menschen). Diese Tatsache ruft die Frustration hervor, verdrängt in Entfremdungsgefühl und führt schließlich zum Inneren der Einsamkeit. Sich dessen bewusst, dass ähnliche Mechanismen vorkommen, scheint Piestrak davon abzuhalten, eine eindeutige Haltung gegenüber der alten Ordnung einzunehmen. Seine künstlerische Handlungen sind Suche, eine Art Antwort auf äußere Welt, die in Andrang der Impulse, die sich unwesentlich unterscheiden, verläuft und der kreierten Sinne. Daher kommt die Verlagerung des Kommunikationscodes in die Richtung „der durch das Bild verneinten Plätze“, „abgewischten“ oder „ausgeschnittenen“ aus der Malreihe. Wenn es schon scheinbar ist, dass sie verständlich sind, verändern sie ihre Lage und ergeben dem wallenden Rhythmus der Leinwand. Sie verwandeln sich in plastische Vorstellungen der fließenden Wirklichkeit. Obwohl es einfach ist, in Deformationen von Piestrak Malvertretungen der Simulakrum von Baudrillard zu entdecken, werden sie gleichzeitig zu „Transiträumen“. Irgendwo zwischen der vielschichtigen Bildfläche und dem Augen gibt es ein Werkfragment eines der bedeutenden Meister (zum Beispiel des Bildes von Hopper oder des Liedes von Pink Floyd (Goodbye blue sky). Diese Zitate verlieren temporale Relationen, in denen sie entstanden, und ihre eigene Identität. Als ihre Vertretung erscheinen die Einsamkeit des Kontextes und Ähnlichkeit zum Original.
Mateusz Piestrak stellt eine Art von quasi Orten und quasi Sachen vor. Einerseits beziehen sie sich auf etwas Bekanntes, andererseits sind sie ein Erzeugnis der neuen Zeiten und der mit ihnen verbundenen Ästhetik. Seine (nicht)Plätze führen in die Richtung des transgressiven Erlebens, dabei sie einer der Ausdrücke der Existenz – wie Marc Augé die gegenwärtige Welt benennt – in der entpersonalisierten Hypermodernität. Nach Augé – dem hervorragenden französischen Anthropologen und Ethnologen – sind ähnliche Räume (dazu zählt er: Schnellstraßen, Kreuzungen, Flughäfen und die Verkehrsmittel, Einkaufzentren und auch Lager für Flüchtlinge) der Eigenart beraubt. Das sind Räume, die sich aus der Sicht der Identität, der Beziehung und der Geschichte nicht definieren lassen. Sie sind die Plätze von „niemandem“ und sie gehören – als gemeinsame Güter – zu allen. Weil keine Gemeinschaft mit ihnen emotionell verbunden ist, schaffen sie nur das vertragliche Gebiet anstatt des gemeinschaftlichen Gebiets. Die Räume dieser Art sind der Kulturbezugspunkte beraubt. Das, was nahe, vertraut, wertvoll ist, wird durch die kalte Unifizierung verdrängt. Der Mensch, der sich in nicht-Plätzen befindet, fühlt sich allein gelassen, ist zur einsamen Interpretation und zur Auswahl der im Überfluss bekommenen Meldungen verurteilt. Tiefere Relationen unterliegen auch dem Festfressen. Das Kontakt mit dem Zweiten/Anderen beschränkt sich zum völlig unentbehrlichen Minimum. Es gibt nur Bewegung, Transit – ohne Reflexion, ohne Verankerung. „Alle Konsumenten des Raums sind auf diese Art und Weise in einer Kosmologie gefangen“.
Hinter der Anonymität der Menschen und Orten birgt sich Vergessen – die schlimmste Form des nicht-Gedächtnisses, die eine reale Androhung der Einsamkeit bringt. Bei der Erweiterung der anthropologischen Bedeutung von Augés nicht-Orten macht die Malerei von Mateusz Piestrak uns dessen bewusst, wieviel diese Räume es in unserem kulturellen Bewusstsein gibt.
Die Meister überwinden
Quasi Orte/Sachen von Piestrak im Rahmen der künstlerischen Metonymien, die das Ambiente der historischen Zeit rekonstruieren. In der Umgebung von abstrakten Formen tauchen die Anknüpfungen an Werke der alten Meister auf, u.a.: von Caravaggio, Holbeino, Velázquez. Jedes Mal haben wir jedoch mit der Exemplifikation dessen zu tun, was „danach“ kommt… Es ist eine Vision der irgendwo zwischen der Zeit und Raum angehängten Bezugsfetzen, die von ihnen zugeschriebenen Bezeichnungen abgelöst wurden. Laokoon-Gruppe taucht in den gebrochenen Farben auf einem der Bilder auf. Fotografischer „verschmierter Fleck“ macht den Umriss des weißen Marmors glatt. Wir haben keine Zweifeln daran, dass eben diese Skulptur, die vom Künstler im Zersetzungszustand dargestellt wurde, wurde zur Inspiration für dieses Bild. Sein unheimlicher Titel – Game over – kündigt das unabwendbares Ende an. Ist es eine weitere Prophezeiung des Endes des Endes von akademischen Mustern oder der Kunst überhaupt? Oder ist es eher ein übliches Spiel, Durchgang von Strukturen, amorphischen Silhouetten, Farben, winzigen Funkeln – jugendliches Spiel mit der Kunst? Wiederholung einer klassischen Formel wird zur transgressiven Befreiung von Zukunft, die vollbracht muss, damit der Künstler eigene Identität finden kann. Über die Malerei von Piestrak scheint „Schimmer“ von der Geste der Ablehnung von Geschichte in der Luft schweben. Die Geste, die von „Postmoderne“ gestiftet wird. Der deutsche Philosoph hatte einst so geschrieben:
Fortwährend löst sich ein Blatt aus der Rolle der Zeit, fällt heraus, flattert fort – und flattert plötzlich wieder zurück, dem Menschen in den Schoß. Und doch muß ihm sein Spiel gestört werden, nur zu zeitig wird es aus der Vergessenheit heraufgerufen. Also: es ist möglich, fast ohne Erinnerung zu leben, ja glücklich zu leben, wie das Tier zeigt; es ist aber ganz und gar unmöglich, ohne Vergessen überhaupt zu leben. Deshalb ergreift es ihn, als ob er eines verlorenen Paradieses gedächte, die weidende Herde oder, in vertrauterer Nähe, das Kind zu sehen, das noch nichts Vergangenes zu verleugnen hat und zwischen den Zäunen der Vergangenheit und der Zukunft in überseliger Blindheit spielt. […] Unhistorisch, widerhistorisch und überhistorisch. […] Überhistorisch wäre ein solcher Standpunkt zu nennen, weil einer, der auf ihm steht, gar keine Verführung mehr zum Weiterleben und zur Mitarbeit an der Geschichte verspüren könnte, dadurch, daß er die eine Bedingung alles Geschehens, jene Blindheit und Ungerechtigkeit in der Seele des Handelnden, erkannt hätte…
Nietsche meint, dass ein ähnliches Vergessen – im Gegensatz zum Begriff von Augé – enthält keine pejorative Aussage, sie wird eher zu einer Art Selbstverwirklichung – es lässt die Gegenwart angemessen erkennen. Ohne das würden wir weiter in falschen axiologischen Strukturen stecken. Durch eine historische Sinne, die das Vergangene mit „hier und jetzt“ mischt, werden wir zu „Halbbarbaren“. Wir benötigen ein kreatives Gestaltung der Beziehung mit der Geschichte, Dominantenänderung sowie lebendige Geschichte zu schreiben. Den Quellen entgegnend (als eine gewisse Denkweise über die Welt) versucht der Künstler von Posen das wahrzunehmen, was über den Horizont erscheint, das also, was im für ihn historischen „kurz davor“ entsteht… Die Malerei von Piestrak beweist, dass „das Neue“ immer auf den Ruinen des Alten entsteht. Es enthält nicht nur ein Teilchen der Vergangenheit, sowie den Umriss des ungebrochenen Werdensprozesses. Dieser Künstler beweist, dass er eine kreative Perspektive auf die umliegende Wirklichkeit hat. Die Formen der pausenlosen Bewegung, Durchfluss, Überlagerung von Zeiten und Definitionen werden zur Grundlage der Schaffung von Malerwelten, Erzählung der Geschichte auf eigene Art und Weise.
Justyna Gorzkowicz